Hallo liebe Freunde und Familie
Was passiert am äußersten Rand der EU? Ich möchte einige Eindrücke von meiner derzeitigen Arbeit hier auf der griechischen Insel Chios mit euch teilen.
Chios liegt direkt westlich von der Türkei, wir können die Türkei von hier aus sehen, wenn wir am Hafen stehen. Die meisten der Menschen, die aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan vertrieben werden, fliehen in ihre Nachbarländer. Für viele sind aber auch die Nachbarländer nicht sicher – oft so bei Verfolgung aus Gründen des Glaubens oder der sexuellen Orientierung, vor allem aber bei Verfolgung durch Gewaltgruppen wie dem IS oder der Taliban. Die Menschen (51 % Frauen und Kinder in 2016) müssen dann weiterfliehen: In die Türkei, wo ein Großteil verbleibt, oder weiter gen Europa. Der Landweg aus der Türkei in die EU (Griechenland oder Bulgarien) ist für die Menschen, die fliehen müssen, nicht mehr möglich: Die EU (und insbesondere Deutschland als tonangebender Mitgliedstaat) erkennt zwar an, dass die Fluchtgründe der Menschen aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan etc. real sind; die EU (und insbesondere Deutschland als tonangebender Mitgliedstaat) erkennt an, dass die türkische Regierung immer und immer repressiver wird, die Opposition ausschaltet, Menschen in seinen Gefängnissen foltert (!), syrische Flüchtlinge an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei erschießt (!) oder sie von der Türkei wieder nach Syrien zurückschiebt. Die EU erkennt das an – und schließt gleichzeitig die Grenzen zwischen der Türkei und Griechenland & Bulgarien, damit diese ganzen Flüchtlinge bloß nicht zu uns kommen. So schlimm ist die Türkei nun auch nicht – oder? Dazu gleich mehr.
Jedenfalls führt das dazu, dass die Menschen über das Wasser statt über den Landweg fliehen müssen. Per Flugzeug geht es nämlich sowieso nicht – da hat die EU schon per Gesetz sichergestellt, dass Fluggesellschaften keine Asylsuchenden ins Flugzeug nehmen dürfen. Selbiges gilt für Fähren. Getrieben von dieser europäischen Grenzpolitik sind die Fliehenden also gezwungen, nachts (damit die Küstenwache sie nicht entdeckt!) in ein Schlauchboot zu steigen und – hoffentlich! – am nächsten Morgen auf einer der griechischen Inseln vor der Türkei (Chios, Lesbos, Samos, Kos) zu laden.
Auf Chios geben wir Rechtsberatung für die Geflüchteten. Wir sind zur Zeit sieben Jura-Studierende, die alle eine einjährige Fortbildung im Asylrecht haben und normalerweise in Berlin im Rahmen der Refugee Law Clinic (RLC) Rechtsberatung für Geflüchtete anbieten.
Vorgestern haben wir eine syrische Familie beraten. In Syrien wurde ihr Haus zerbombt, Verwandte getötet, der Vater verfolgt. Die Familie floh in die Türkei. Dort wurde sie von der türkischen Mafia gejagt: in 4 verschiedenen Städten versuchten die Familie, sich niederzulassen und zu arbeiten. In allen Städten wurden sie von der Mafia gefunden, ihre beiden Kinder wurden entführt, sie zahlten 30.000 Euro Lösegeld. Beide Kinder sind seit der Entführung traumatisiert, eines ist seitdem geistig zurückgeblieben, das andere hat Spasmen und kann mit den Augen nicht fokussieren. Nach eineinhalb Jahren Drohungen und der Entführung der Kinder blieb der Familie nichts, als weiter zu fliehen. Da die EU keine Asyl-Visa oder dergleichen vergibt und die Landgrenzen, wie oben beschrieben, dicht sind, musste die Familie mit ihren 2 Kindern in ein Schlauchboot mit 36 anderen Menschen steigen. Zum Glück haben sie die Überfahrt überlebt; nun sitzen sie in einem von Frustration und Gewaltausbrüchen beherrschtem Camp in einem kleinen Plastikzelt auf Chios fest und es beginnt für sie das lange, lange Warten im europäischen Asylprozess…
Vorgestern habe ich am Camp mit einem 18-jährigen Syrer gesprochen. Er musste ebenfalls aus Syrien fliehen. Als er versuchte, von Syrien in die Türkei zu kommen, passierte ihm das Unglaubliche, was mir auch schon andere Geflüchtete hier auf Chios erzählt haben: Die türkische Grenzwache hat auf ihn und die Leute, die mit ihm versuchten, dem Krieg zu entfliehen, geschossen. Sein Freund wurde getroffen und starb.
Der 18-jährige Junge hatte Glück und wurde nicht erschossen. Er schaffte es auf die andere Seite. Doch da geschah das nächste Unglaubliche, auch etwas, das mir traurigerweise vielen der männlichen Geflüchteten, mit denen ich gesprochen habe, passiert ist: Eigentlich ist die Türkei ja völkerrechtlich verpflichtet, den Menschen, in dem Moment, in dem sie ihr Staatsgebiet betreten, die Asylantragsstellung zu gewähren. Deshalb versuchen sie durch Schüsse – oder dem derzeitigen Mauer(!)bau – ja genau dieses Betreten des Staatsgebiets zu verhindern. (So wie eben auch die EU durch Zäune und Patrouillen an ihren Grenzen.) Die Türkei hält sich aber nicht an diese völker- und menschenrechtliche Verpflichtung: Was geschah mit dem 18-Jährigen? Die türkische Grenzwache rannte hinter ihm her und nahm ihn fest. Sie steckten ihn in ein Gefängnis, wo sie ihn schlugen und traten. Dann machten sie ein Foto von ihm, nahmen seinen Namen auf und sagten: Wenn du noch einmal versuchst, über die Grenze zu kommen, töten wir dich. Am nächsten Morgen brachten sie ihn zu einem Tunnel, den er durchqueren musste, um am anderen Ende wieder in Syrien herauszukommen. Diese Art der tödlichen (gezielte Schüsse!) Grenzsicherung und menschenrechtswidrigen „Push-Backs“ sind der Grund, warum man in Zeitungen manchmal von Syrien als „Freiluftgefängnis“ liest: Die Leute in Syrien verhungern, verdursten, ersticken, werden gefoltert, vergewaltigt, verfolgt – wollen fliehen – und werden dann an der Grenze selber von der Türkei (!) erschossen oder zurück nach Syrien gestoßen. Man muss sich dieses Bild mal eine Weile vor Augen halten. Ich treffe hier täglich mehrere Menschen, die genau das erlebt haben.
Der 18jährige Junge erlebte also einen solchen „Push-Back“ zurück nach Syrien. Aber dort konnte er eben nicht mehr leben – Haus zerbombt, Familie bereits in Schweden, Krieg. Ein Visum zu seiner Familie in Schweden? Geht nicht, der Junge ist schließlich schon 18, also erwachsen, also kein Recht auf Familienzusammenführung. So musste er erneut den gefährlichen Weg über die türkische Grenze wagen. Erneut bei Nacht gelangte er in die Türkei. Doch wiederum wurde er in der Türkei aufgegriffen und in ein Gefängnis nahe der syrischen Grenze gebracht. Auch in diesem Gefängnis wurde er täglich (!) von den türkischen Polizisten geschlagen. Er täuschte eine Krankheit vor, wurde ins Krankenhaus eingeliefert, sprang dort aus dem Fenster und flüchtete. Quer durch die Türkei Richtung Westen, denn in der Türkei zu bleiben, konnte er sich nach diesen furchtbaren Erfahrungen mit der türkischen Polizei unter keinen Umständen vorstellen. Auch er muss die heimliche und gefährliche Überfahrt auf sich nehmen, um endlich dem Schrecken zu entkommen.
Als wir in der Beratung saßen und ich ihm den EU-Türkei-Deal erklärte, konnte er es einfach nicht fassen: Die EU will alle Leute, die in der EU aus der Türkei ankommen, in die Türkei zurückschicken, weil die Türkei ein sicherer Drittstaat ist? Do you really think that I and all these people here would risk their lives by getting onto a small rubber boat to come here if Turkey was safe for us? fragt er mich fassungslos.
Zuerst muss ich dann immer meine Rolle erklären – dass ich den EU-Türkei-Deal auch furchtbar finde, dass ich versuchen werde, ihn bestmöglich auf sein sogenanntes „Admissibility-Interview“ vorzubereiten und wir so möglichst vermeiden, dass er zurück in die Türkei geschoben wird: In ein Land, das Syrer zurück nach Syrien pushed, dass Afghanen ohne Asylprüfung nach Afghanistan zurückschiebt, ein Land, in dem die Menschen willkürlich inhaftiert und misshandelt werden.
Für die Asylsuchenden, wie z.B. den 18-jährigen Jungen, ist es schwer zu verstehen, warum sie ein Interview zur Türkei und nicht ein Interview zu Syrien/ Irak / Afghanistan etc. haben werden. Wir von der Refugee Law Clinic (RLC) versuchen dann zunächst, den EU-Türkei-Deal begreiflich zu machen: Dass die EU trotz der offensichtlich schlechten Umstände in der Türkei (Diskriminierung, schlechter Zugang zu Bildung, Arbeit, Sozialleistungen, die oben benannten „Push-Backs“ und Verhaftungen, das Zurückschießen an der Grenze) entschieden hat, dass grundsätzlich alle auf den griechischen Inseln ankommenden Geflüchteten in die Türkei zurückgeschoben werden sollen, um dort zu leben und Asyl zu beantragen. Dass die Türkei nicht einmal das entscheidende Protokoll der Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben hat, versucht die EU mit dem Argument zu begegnen, dass der Schutz zwar nicht de jure, aber doch de facto gegeben sei. Dies ist längst durch Analysen von Menschenrechtsorganisationen (Amnesty International, Human Rights Watch, Pro Asyl) widerlegt.
Nach der Erklärung bereiten wir die Asylsuchenden dann auf dieses „Admissibility“ Interview vor. Wir gehen mit ihnen gemeinsam ihre Fluchtgeschichte (noch nicht: die Fluchtgründe im Herkunftsland) durch und schauen, welche schlechten Erfahrungen sie in der Türkei (Push Back, Verhaftung, Folter, Willkür, kein Zugang zu Arbeit, Gesundheitseinrichtungen, Diskriminierung, Verweigerung der Möglichkeit Asyl zu beantragen, Verfolgung von nicht staatlicher Seite, …) gemacht haben. Dies, gepaart mit dem meistens vorliegendem Umstand dass die Personen überhaupt kein türkisch sprechen, keine türkischen Kontakte haben und generell keinen Bezug zur Türkei haben, kann sie dann „admissible“ machen. „Admissible“ bedeutet, dass sie nicht in die Türkei zurückgeschoben werden, sondern dass ihr eigentlicher Asylantrag nun doch in Europa – konkret, in Griechenland – geprüft wird.
Der Witz ist: Dieses System muss mal erst einmal verstehen und seine Rechte und Möglichkeiten in diesem Admissibility Interview kennen um dieses Interview zu überstehen. Das Gegenteil ist hier auf Chios der Fall. Die Menschen kommen zu vierzigst, fünfzigst über Nacht nach einer unheimlichen Überfahrt an, müssen Fingerabdrücke etc. abgeben, werden dann in eines der zwei Camps gebracht. Ein Camp hat es (zum Glück) letzte Woche unrühmlich in die Medien geschafft, weil dort die ankommenden Menschen zu Beginn für einige Stunde in Käfige (!) gesteckt wurden, um ein geordnetes Ankommen zu ermöglichen… Sehr, sehr traurig, was hier vor sich geht. Menschen stecken andere Menschen in Käfige – übrigens ohne dass es einen Gefährdungszustand oder etwas in der Art gegeben hätte, sondern weil es übersichtlich und effizient ist. Einer unserer Kumpels, der hier selbst Geflüchteter ist und uns beim Übersetzen hilft, hat heimlich ein Video gedreht und es veröffentlicht. So haben es die Käfige schnell in die Medien geschafft und sie wurden gestern entfernt. Geht also doch auch ohne – aber erst, wenn es Druck von der Öffentlichkeit gibt!
Nach dem Ankommen kommt dann irgendwann das „Admissibility“ Interview und viele Geflüchtete wissen eben gar nicht, was es damit auf sich hat. Sie sind verwirrt, warum es nicht um Syrien, Irak, Afghanistan geht. Und, noch wichtiger: Sie haben Angst. Denn im Interview bekommen sie gesagt, dass ihre Daten mit den türkischen Behörden abgeglichen werden. Was damit gemeint ist: Griechenland prüft, ob der/die Asylsuchende wirklich so lange in der Türkei war, wie er/sie angibt. Was bei dem/der Asylsuchenden ankommt: Ich kann hier nichts über meine Misshandlungen durch das türkische Militär oder Polizei sagen, sonst kriegen die das mit und mir geht’s wieder an den Kragen. Dieser Verständnis- und Informationslücke versuchen wir mit unserer Arbeit entgegen zu wirken.
„Juristisch“ gibt es viele Punkte, die einen an der Rechtmäßigkeit der Admissibility Interviews zweifeln lassen. Die fehlende Vorbereitung/ Aufklärung ist unserer Meinung nach die größte Rechtslücke. Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass sie hier nicht ihren Grund für die Flucht bspw. aus dem Iran angeben müssen, sondern Türkei-Relevantes, wie etwa ihre kurdische Herkunft, die in der Türkei – wo Erdogan seit Monaten kurdische Städte bombardiert (!) – zu Diskriminierung, Verfolgung und Totschlag führen kann.
Weiterhin müssten die Interviews eigentlich in absolut privaten Räumen geführt werden. De facto haben immer mehrere Leute gleichzeitig ihr Interview mit nur halbhohen, dünnen Plastikwänden zwischen ihnen, sodass man die Nebenstimmen hören kann.
Dazu kommt übrigens auch noch, dass hier gar nicht genug Dolmetscher auf der Insel sind. Einmal wurde ein Mensch überredet, das Interview auf Englisch zu machen obwohl er kein gutes Englisch spricht – eine unglaubliche Rechtsverletzung, wenn man bedenkt, wie wichtig das Interview für die Leute ist. Manchmal wird das Interview – gut und gerne mal 5 Stunden lang – per Telefon gedolmetscht.
Außerdem ist es auf Chios, so wie auch auf den anderen „Hot-Spots“ (die Verfahren auf den griechischen Inseln, wo die Menschen schnell abgefertigt werden sollen – klappt nicht so ganz, viele warten hier seit einem Jahr) so, dass der European Asylum Support Service (EASO), also eine europäische Behörde, das Admissibility Interview führt und nicht das Greek Asylum Service, der lediglich formell am Ende die Entscheidung fällt. Woher die europäische Kompetenz hier kommt und wer rechtlich verantwortlich ist für die Verfahrensverletzungen, die hier stattfinden, bleibt ungeklärt.
Was machen wir sonst so? Wenn die Leute „admissible“ sind, steht ihr zweites, großes Interview („Substantive“) an: Hier geht es um Fluchtgründe aus dem Herkunftsland. Und wieder dasselbe Spiel: Es gibt das Menschenrecht auf Asyl, aber wie viel ist es wert, wenn man keine Aufklärung bekommt, worauf es in dem entscheidenden Interview ankommt? Täglich beraten wir hier Geflüchtete, die die furchtbarsten Geschichten erlebt haben, aber sich nicht sicher sind, worauf es in dem Interview eigentlich ankommt. Viel schlimmer noch: Viele haben Angst, dass die Informationen zurück an die Geheimdienste ihrer Länder fließen. So hat es sehr lange gebraucht, gestern den verfolgten Christen aus dem Irak zu überreden, diese Geschichte im (morgen anstehenden!) Interview auch zu erzählen. Oder ein weiterer Geflüchteter, der monatelang im Gefängnis gefoltert wurde – der aber dachte, es wäre besser, „sicherheitshalber“ nur über die generelle schlechte politische Lage in seinem Land zu reden, aber nicht über seine ganz persönliche Geschichte. Das Gegenteil ist nun leider der Fall.
Gestern haben wir einen Iraner in meinem Alter auf das „Substantive“ Interview vorbereitet. Es hat ziemlich lange gebraucht, bis er voller Scham seinen Fluchtgrund zu verbalisieren begann (Homosexualität) und eine weitere Stunde, bis er überredet war, diesen auch im Interview zu nennen. Im Iran wurde er bereits von der Polizei geschlagen und wird derzeit wieder gesucht. Hier haben wir uns nach der Interview noch fünfmal hoch und heilig Stillschweigen geschworen und dann zusammen eine Runde Volleyball gespielt.
Ebenfalls auf das „Substantive“ Interview haben wir letzte Woche eine afghanische Familie vorbereitet. Eltern mit 2 Kindern, eins davon noch ein Baby, das während der Anhörungsvorbereitung noch Milch von der Mutter bekam – absurde Zustände… Auch hier dauert es eine ganze Weile, bis verständlich wurde, dass die Familie ihre ganze schreckliche Geschichte (die Schwester des Mannes war afghanische Frauenrechtlerin (mittlerweile nach Kanada geflohen), die ganze Familie dadurch von der Taliban verfolgt) im Interview noch einmal erzählen muss und dass „allein“ der Abschied von Heimat, Familie, Freunden, eine Flucht zu Fuß durch den Iran, die Türkei und auf dem Boot über das Meer eben nicht als Beweis reicht, dass man wirklich einen Fluchtgrund hat.
Neben der Anhörungsvorbereitung für die „Admissibility“ und „Substantive“ Interviews kümmern wir uns noch um zwei weitere Themen: Einerseits bemühen wir uns um die Beschleunigung des Asylverfahrens, wenn wir „Vulnerable persons“ entdecken: Schwangere, sehr Alte, Behinderte, Menschen mit Folter- oder Vergewaltigungserfahrungen. Sie wohnen hier wie alle anderen im blöden Camp, in dem es im Winter zu kalt, im Sommer zu heiß, stets zu laut und viel zu öffentlich (Duschen, WC) ist. Für sie versuchen wir zu erreichen, dass sie vom „Admissibility“ Verfahren ausgenommen werden und schneller aufs griechische Festland kommen.
Außerdem versuchen wir, Familien über das Dublin III System zusammenzuführen (nicht zu verwechseln mit dem nationalen „Familiennachzug“, den man aus Deutschland für GFK-Flüchtlinge kennt). Wenn ein Asylsuchender in einem anderen europäischen Staat schon „Kernfamilie“ (Ehegatte, Minderjähriges Kind und Eltern, minderjährige Geschwister ohne Begleitung von Eltern) hat, kann er/sie eine Zusammenführung mit dieser Familie beantragen. Auch hier gilt mal wieder: Gar nicht so übles Recht, aber woher soll man als Ankommende/r wissen, wann man was wo wie wer sagen/ einreichen/ beweisen/ hinschicken muss, um an sein Recht zu kommen? Da mischen wir jedenfalls auch ein bisschen mit.
Auf dem Hinflug von Athen nach Chios saß neben mir ein 30-jähriger palästinensischer Syrer O., der als anerkannter Flüchtling in Österreich lebt. Wir quatschten ein bisschen und es stellte sich heraus – seine Frau kam an dem Tag mit dem Boot aus der Türkei auf Chios an! Er flog also nach Chios, um sie nach vier Jahren Trennung endlich wiederzusehen. Aber sie konnte dann eben nicht einfach mit ihm nach Österreich reisen, sondern muss auf der Insel bleiben, bis die Familienzusammenführung genehmigt oder ihr Asylverfahren beendet/ in einem anderen Stadium ist.
Im selben Boot mit der Ehefrau von O. kam auch seine Schwester A. an. Da O. und A. aber volljährig sind, muss A. wie alle anderen in Chios bleiben und wird zunächst ihr Admissibility Interview haben. Für O. ist das so schmerzhaft: Er hat seine Schwester vier Jahre nicht gesehen, hatte so Angst um sie, ihr Mann wurde in dieser Zeit in Syrien mit sechs Schüssen in die Brust getötet. Nun haben sie sich endlich wieder – aber doch nicht! Denn er wird ohne sie zurück nach Österreich fliegen müssen, während sie, alleine auf Chios zurückbleibend, einem langen, langen Asylverfahren mit einer potenziellen Rückschiebung in die Türkei entgegenblickt.
Unser Arbeitsalltag sieht so aus: Wir wachen morgens um 8 Uhr in unserem Hostel auf, frühstücken und fahren nach Souda. Souda ist das Camp, das in der Stadt Chios am Hafen gelegen ist. Das andere Camp, Vial, ähnelt einem riesigen Gefängnis und liegt abgeschottet mitten auf der Insel. Wir haben dort kaum Zugang. Manchmal fahren wir trotzdem hin, wenn wir von einem dringenden Fall hören, Akteneinsicht beantragen o.ä., aber meistens sind wir in Souda. Vom Hostel nach Souda kommen wir auf unseren hier geliehenen Fahrrädern, weshalb wir hier mittlerweile den Ruf als „the German lawyers on bikes“ weghaben 🙂 In Souda haben wir dann meist schon am Vortag Termine ausgemacht; man trifft sich vor dem Camp Eingang, geht dann in ein Café oder an einen ruhigen Platz am Hafen und spricht den Fall durch. Meistens geht es um die Vorbereitung auf das Admissibility (Türkei) oder Substantive (Herkunftsland) Interview, manchmal um die Organisation einer Familienzusammenführung. Mittlerweile haben wir auch einen Workshop zum Asylprozess und den Interviews konzipiert, den wir in den Räumen eines selbstverwalteten English-Centers geben können. Dort quetschten sich letzte Woche dann gleich 25 Leute in einen winzigen Raum, weil – natürlich! – alle endlich um ihre Rechte wissen wollen.
In Souda leben z.Z. ca. 800 Menschen, fast täglich kommen neue an. In Vial sind 1000 Leute untergebracht. Die meisten in Souda kennen uns schon, wir werden sehr nett aufgenommen und viele Camp-Bewohner/innen helfen uns beim Organisieren und Übersetzen. Ich arbeite z.B. mit A. aus Afghanistan viel zusammen, der farsi übersetzt. Er wollte in Afghanistan gerade anfangen, Law and Politics zu studieren, als er fliehen musste. Zusammen mit A. kann ich Leute aus dem Iran und Afghanistan beraten. Mein Hauptpartner für Beratungen aus Arabisch ist O. Er ist syrischer Arzt und hängt ebenfalls seit einem Jahr (!) in dem öden Camp hier fest, zum Nichts-Tun verdammt. Er hat eine Admissibility-Ablehnung bekommen, soll also in die Türkei zurückgeschoben werden – obwohl er Kurde ist… Dagegen hat er Berufung eingelegt und wartet seitdem auf die Entscheidung.
A.und O. sind die tollsten Dolmetscher und ich bin sehr froh, dass wir so vertraulich zusammenarbeiten können. Schließlich müssen wir jedem Asylsuchenden versprechen können, dass das, was er/sie sagt, vertraulich ist und nicht im Camp die Runde machen wird. Ansonsten berate ich selber noch auf englisch, russisch und französisch. Und auch farsi oder arabisch Fetzen helfen immer mal wieder, Vertrauen aufzubauen oder die Stimmung ein bisschen aufzulockern.
Wenn wir gerade keine Termine haben, sind wir einfach vor dem Camp für alle möglichen Fragen ansprechbar: Wie funktioniert der Asylprozess generell, was hat es mit dem Dublin-System auf sich, warum kann ich nicht zu meiner Schwester nach Norwegen, an wen kann ich mich wenden, wenn ich eine Ablehnung bekomme etc. Zwischen 16 und 18 Uhr haben wir von der Stadtverwaltung gewährten Zugang zum Camp, können dann also auch zu den Menschen in die Zelte hineingehen, was insbesondere für ältere Leute natürlich wichtig ist.
Eigentlich kann ich hier jeden Tag recht gut durcharbeiten. Es gibt viel zu tun, man kann viel bewirken, trifft tolle Leute, spricht viele Sprachen. Abends kommt in melancholischer Hafenstimmung dann regelmäßig die große Traurigkeit. Die wird an der Oberfläche schnell verdrängt vom gemeinsamen Kochen, Spaziergängen mit Leuten aus dem Camp, nächtlichen Teambesprechung usw. Aber da ist sie trotzdem: Wie kann es sein, dass viele Menschen so viel Schlechtes erleiden müssen und es so wenig Solidarität mit ihnen auf dieser Welt gibt? Wenn es doch offensichtlich Zufall ist, ob man auf dieser Welt ins reiche Berlin oder ins arme burundische Dorf geboren wird, wie kommen dann Menschen dazu, Fliehende in „echte“ und „unechte“ Flüchtlinge einzustufen? Wer nimmt sich heraus zu entscheiden, wie viele Brüder und Schwestern von jemandem vor Hunger sterben müssen bevor er die Erlaubnis hat, diesem Leben zu entfliehen, obwohl das ja gar kein politischer Grund ist? Wie kann es sein, dass hier auf Chios die Menschen seit mittlerweile über einem Jahr auf dieser winzigen Insel festgehalten werden, dass Schwangere, Alte und Babys hier im Camp leben müssen, dass Folteropfer hier in unsicheren, unstabilen, unbehüteten Zuständen alleine vor sich her leben müssen anstatt zu einem nahestehenden Menschen weiterreisen zu können?
Ich habe hier bereits von vier Menschen gehört, dass und wie sie in Syrien gefoltert wurden. Der eine, A., ist so alt wie ich, hat Maschinenbau studiert und wollte gerade anfangen zu arbeiten. Doch dann wurde er vom IS gefangen genommen, 3 Monate in einer winzigen Kellerzelle festgehalten, davon 20 Tage nackt, täglich geschlagen, wöchentlich mit Instrumenten gefoltert und über seiner Zelle hingen vier abgeschnittene Menschenköpfe. Sein Körper zittert, wenn er über Syrien spricht, nachts kann er nicht schlafen. „Wenn ich alleine bin, muss ich weinen“, lese ich später in seinem Interview-Protokoll, das er mir gab. Seine Freundin ist noch in Syrien, seine Schwester in Deutschland. Weder kann er seine Freundin nachholen, noch zu seiner Schwester nach Deutschland. Stattdessen hockt er mit hunderten weiteren Menschen, die er nicht kennt, in einem Flüchtlingscamp hier auf der Insel und wartet und wartet und wartet. Das ist die Bedeutung des EU-Türkei-Deals für die Menschen, die es wirklich betrifft. Und in Deutschland freut man sich, dass jetzt weniger Menschen ankommen.
Wenn die AfD in Deutschland Schusswaffengebrauch an deutschen Außengrenzen in Erwägung zieht, gibt es (immerhin noch…) einen großen Aufschrei. Dass die EU (und again: Deutschland als tonangebender Mitgliedstaat) mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal abmacht, damit Geflüchtete nicht mehr bis nach Europa durchkommen, in dem Wissen dass die Türkei an ihren Außengrenzen Menschen erschießt (!) erzeugt keinen solchen Aufschrei. Warum nicht?! Europa verlagert lediglich die Außengrenzenabwehr, und was genau dahinten in der Osttürkei vor sich geht, ist ja dann doch nicht so schlimm…?
« Festung Europa » ist leider kein leerer Begriff. Ich freue mich, wenn ihr die Mail an Interessierte weiterleitet und bin ready für Diskussionen, wenn ihr Dinge anders seht.
Ce témoignage est pénible à lire. Depuis le deal avec la Turquie, l’arrivée des migrants en grand nombre a cessé. En lisant ce rapport de première main, on apprend ce que l’on craignait et ne voulait pas trop savoir sur la violence inouïe et l’arbitraire dont les réfugiés en Turquie sont les victimes.